ZEHN
Am nächsten Morgen mache ich den Fehler Ripley zu bitten, mir bei der Auswahl eines Sweatshirts zu helfen.
»Was meinst du?« Ich halte ein blaues hoch, ehe ich es gegen ein grünes tausche.
»Nimm wieder das pinkfarbene«, sagt sie, während sie mit schief gelegtem Kopf auf meiner Kommode hockt, als würde sie die einzelnen Möglichkeiten abwägen.
»Ich habe kein pinkfarbenes«, gebe ich finster zurück und wünsche mir, sie könnte zur Abwechslung einmal ernst sein und würde aufhören, aus allem so ein Riesenspiel zu machen. »Komm schon, hilf mir, ich muss zur Schule.«
Blinzelnd reibt sie sich das Kinn. »Würdest du das eher als himmelblau oder als kornblumenblau bezeichnen?«
»Das reicht.« Ich werfe das blaue Sweatshirt zur Seite und mache Anstalten, mir das grüne über den Kopf zu zerren. »Nimm das blaue.«
Ich halte inne; meine Augen schauen hervor, Nase und Kinn noch in Fleece versteckt.
»Im Ernst. Es betont deine Augen.« Einen Moment lang blinzle ich sie verkniffen an, dann ziehe ich das grüne wieder aus und tue, was sie sagt. Krame nach Lipgloss und will es gerade auftragen, als sie loslegt: »Okay, was ist Sache? Ich meine, die Sweatshirt-Krise, die feuchten Handflächen, das Make-up, was läuft da?«
»Ich trage doch gar kein Make-up«, wehre ich ab und zucke zusammen, als meine Stimme fast zu einem Brüllen ansteigt.
»Ich will mich ja nicht wegen einer reinen Formsache mit dir anlegen, Ever, aber Lipgloss zählt definitiv als Make-up. Und du, Schwesterherz, wolltest gerade welches aufpinseln.«
Ich lasse das Lipgloss wieder in die Schublade fallen, greife nach meinem Fettstift und schmiere damit einen wachsartigen, glanzlosen Strich über meine Lippen.
»Ah, hallo? Ich warte hier immer noch auf 'ne Antwort?«
Ich presse die Lippen zusammen, marschiere zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.
»Schön, wie du willst. Aber glaub ja nicht, du kannst mich am Raten hindern«, sagt sie und folgt mir dicht auf den Fersen.
»Von mir aus«, knurre ich und gehe in die Garage.
»Also, wir wissen, dass es nicht Miles ist, denn du bist eigentlich nicht sein Typ, und wir wissen, dass es nicht Haven ist, denn sie ist nicht wirklich dein Typ, also bleibt nur -« Sie schlüpft durch die geschlossene Autotür auf den Vordersitz, während ich mich bemühe, nicht zusammenzufahren. »Na ja, ich glaube, damit ist dein Freundeskreis so ziemlich abgegrast, also sag's mir, ich gebe auf.«
Ich öffne die Garagentür und steige auf herkömmliche Weise in mein Auto, dann lasse ich den Motor aufheulen, um ihre Stimme zu übertönen.
»Du hast doch irgendwas vor«, beharrt sie über das Röhren hinweg. »Weil, entschuldige, wenn ich das so sage, aber du benimmst dich genauso wie damals, kurz bevor du was mit Brandon angefangen hast. Weiß du noch, wie nervös und paranoid du warst? Wie du überlegt hast, ob er auch auf dich steht und so, bla-bla-bla. Also komm schon, erzähl's mir. Wer ist der Unglückliche? Wer ist dein nächstes Opfer?«
Und genau in dem Augenblick, in dem sie das sagt, flammt ein Bild von Damen vor mir auf, und er sieht so toll aus, so sexy, so glühend und mit den Händen zu greifen, dass ich fast den Arm ausstrecke und ihn packe. Stattdessen räuspere ich mich nur, lege den Rückwärtsgang ein und antworte: »Niemand. Ich stehe auf niemanden. Aber verlass dich drauf, das ist das letzte Mal, dass ich dich um Hilfe gebeten habe.«
Kurz vor dem Englischunterricht bin ich genauso hibbelig, nervös und beklommen, wie Riley es mir vorgehalten hat, einschließlich schweißfeuchter Handflächen. Als ich jedoch sehe, wie Damen mit Stacia plaudert, füge ich dieser Liste noch paranoid hinzu.
»Ah, Entschuldigung«, sage ich, weil mir Damens wunderbar lange Beine den Weg versperren und den Platz von Stacias üblicher Stolperfalle einnehmen.
Doch er beachtet mich gar nicht, bleibt weiter auf ihrer Schreibplatte hocken, und ich sehe, wie er ihr hinters Ohr greift und eine weiße Rosenknospe zu Tage fördert.
Eine einzelne weiße Rosenknospe.
Eine frische, blütenreine, glitzernde, taufeuchte weiße Rosenknospe.
Und als er sie ihr reicht, quietscht sie so laut, dass man glauben könnte, er hätte ihr gerade einen Diamanten verehrt.
»Oh. Mein. Gott! Wie hast du das gemacht?«, kreischt sie und wedelt mit der Rosenknospe herum, damit alle sie sehen können.
Ich presse die Lippen zusammen, fummele an meinem iPod herum und drehe ihn auf, bis ich sie nicht mehr hören kann.
»Ich muss mal vorbei«, murmele ich; meine Augen begegnen Damens, und ich fange ein ganz kurzes Aufblitzen von Wärme auf, ehe sein Blick zu Eis wird und er mir den Weg frei macht.
Rasch marschiere ich auf meinen Platz zu, meine Füße bewegen sich so, wie sie sollen, immer einer vor den anderen, wie ein Zombie, wie ein Roboter, wie irgendetwas Tumbes, Stummes, das lediglich die einprogrammierten Bewegungen abspult, unfähig, selbstständig zu denken. Dann lasse ich mich auf meinem Stuhl nieder und mache weiter, hole Papier, Bücher und einen Stift hervor und gebe vor, nicht zu merken, wie widerwillig Damen ist, wie unwillig er losschlurft, als Mr. Robins ihn zu seinem Platz schickt.
»Schitt, was?«, fragt Haven, schiebt ihren Pony zur Seite und blickt starr geradeaus. Nicht mehr »Scheiße« zu sagen, ist der einzige Neujahrsvorsatz, den sie jemals hat einhalten können, allerdings nur, weil sie Schitt witzig findet.
»Ich wusste ja, dass das nicht lange gut geht.« Miles betrachtet Damen, sieht zu, wie er die Elite mit seinem natürlichen Charme, seinem Zauberstift und irgendwelchen be-schittenen Rosenblüten bezaubert. »Ich wusste es ja, das war zu schön, um wahr zu sein. Genau das habe ich doch gleich am allerersten Tag gesagt. Wisst ihr noch, wie ich das gesagt habe?«
»Nein«, nuschelt Haven und starrt Damen an. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Na ja, habe ich aber.« Miles trinkt von seinem Vitaminwasser und nickt. »Ich hab's gesagt. Ihr habt es bloß nicht gehört.«
Ich schaue auf mein Sandwich hinunter und zucke mit den Schultern; ich habe keine Lust, in diese ganze Debatte über Wer hat was gesagt einzusteigen, und auf keinen Fall will ich zu Damen, Stacia oder irgendjemand anderem an diesem Tisch da drüben hinüberschauen. Ich bin noch immer wie vor den Kopf geschlagen von jenem Moment in Englisch, als Damen sich mitten in der Anwesenheitskontrolle zu mir herübergebeugt hat, um mir einen Zettel zu geben.
Aber nur, damit ich ihn an Stacia weiterreiche.
»Gib's doch selbst weiter«, habe ich geantwortet und mich geweigert, das Ding anzurühren. Und mich gefragt, wie ein einziges Blatt Papier, zu einem Dreieck gefaltet, solchen Schmerz verursachen kann.
»Komm schon«, drängte er und schnippte das Papier zu mir, so dass es direkt neben meinen Fingern landete. »Du wirst schon nicht erwischt, ich versprech's dir.«
»Um's Erwischtwerden geht's nicht.« Wütend funkelte ich ihn an.
»Um was geht's dann?«, fragte er, die dunklen Augen fest auf meine gerichtet.
Es geht darum, dass ich das Ding nicht anfassen will! Dass ich nicht wissen will, was da drin steht! Weil ich in dem Moment, in dem meine Finger das Papier berühren, den Inhalt im Kopf vor mir sehen werde - die ganze anzügliche, wunderbare, verspielte, ungefilterte Botschaft. Und obwohl es schlimm genug sein wird, sie in ihren Gedanken zu hören, kann ich dann wenigstens so tun, als wäre sie kompromittiert, von ihrem Spatzenhirn verwässert. Aber wenn ich das Stück Papier da anfasse, dann weiß ich, dass die Worte wahr sind, und ich kann es einfach nicht ertragen, sie zu sehen ...
»Gib's selber weiter«, wiederholte ich schließlich noch einmal, stupste den Zettel mit der Spitze meines Bleistifts an und schob ihn über den Rand meiner Schreibplatte. Und ich fand es schrecklich, wie mein Herz gegen meine Brust hämmerte, als er lachte und sich bückte, um ihn aufzuheben.
Ich hasste mich für die Erleichterung, die mich durchflutete, als er ihn in die Tasche steckte, anstatt ihn ihr zu geben.
»Ah, hallo, Erde an Ever.«
Ich schüttele den Kopf und schaue Miles an.
»Ich habe gefragt, was passiert ist. Ich meine, ich will ja nicht mit dem Finger auf dich zeigen oder so, aber du bist die Letzte, die ihn heute gesehen hat.«
Ich betrachte Miles und wünsche mir, ich wüsste es. Denke an gestern, an den Kunstkurs, daran, wie Damens Blick den meinen gesucht hat, wie seine Finger meine Haut berührt haben, so sicher, als teilten wir etwas ganz Persönliches miteinander - sogar etwas Magisches. Doch dann fällt mir das Mädchen wieder ein, das vor Stada an der Reihe war, die bildhübsche, hochmütige Rothaarige im St. Regis, die ich so günstigerweise hatte vergessen können. Und ich komme mir vor wie eine Vollidiotin, weil ich so naiv war, weil ich gedacht habe, er könnte mich vielleicht gern haben. Denn die Wahrheit ist, so ist Damen einfach. Er ist ein Spieler, er macht das immer so.
Ich schaue über die Lunchtische hinweg, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Damen einen ganzen Strauß aus den Rosenknospen macht, die er aus Stacias Ohr, ihrem Ärmel, ihrem Ausschnitt und ihrer Handtasche zieht. Dann presse ich die Lippen zusammen, wende den Blick ab und erspare mir die dankbare Umarmung, die bald darauf folgt.
»Ich habe überhaupt nichts gemacht«, sage ich schließlich, ebenso verwirrt von Damens launischem Verhalten wie Miles und Haven, nur sehr viel weniger gewillt, es zuzugeben. Ich kann Miles' Gedanken hören, wie er meine Worte abwägt, zu entscheiden versucht, ob er mir glauben soll. Dann seufzt er und fragt: »Fühlt ihr euch genauso niedergeschlagen, zurückgewiesen und verstoßen wie ich?«
Ich sehe ihn an und will mich ihm anvertrauen, wünsche mir, ich könnte ihm alles erzählen, den ganzen schäbigen Gefühlswirrwarr. Dass ich mir erst gestern noch sicher war, dass zwischen uns etwas Bedeutsames geschehen war, nur um heute aufzuwachen und das hier vorgesetzt zu bekommen. Doch ich schüttele nur den Kopf, sammele meine Sachen zusammen und gehe zum Unterricht, lange, bevor es klingelt.
Während der ganzen fünften Stunde - Französisch - überlege ich, wie ich Kunst schwänzen könnte. Ganz im Ernst. Selbst während ich an dem üblichen Drill teilnehme, sich meine Lippen bewegen und fremde Worte formen, ist mein Verstand völlig besessen davon, Magenschmerzen vorzutäuschen, Übelkeit, Fieber, einen Schwindelanfall, Grippe, ganz egal was. Jede Ausrede ist mir recht.
Und nicht nur wegen Damen. Die Wahrheit ist, ich weiß gar nicht, warum ich diesen Kurs überhaupt belegt habe. Ich habe keinerlei künstlerisches Talent, meine Arbeit ist völlig im Eimer, und es ist ja auch nicht so, als ob ich Künstlerin werden will. Und, ja, wenn man diesem ohnehin schon satten Gemisch auch noch Damen hinzufügt, dann kommt am Ende nicht nur ein ernsthaft versauter Notendurchschnitt dabei heraus, sondern auch noch siebenundfünfzig Minuten Verkrampftheit.
Schließlich gehe ich doch hin. Hauptsächlich, weil es richtig ist. Und ich bin so sehr damit beschäftigt, mein ganzes Zeug zusammenzusuchen und meinen Kittel überzuziehen, dass ich zuerst überhaupt nicht merke, dass er gar nicht da ist. Und als die Minuten vergehen, ohne dass etwas von ihm zu sehen ist, nehme ich meine Farben und gehe zu meiner Staffelei.
Nur um diesen blöden dreieckigen Zettel darauf vorzufinden.
Ich starre das Papierdreieck an, konzentriere mich so sehr darauf, dass alles um mich herum dunkel und undeutlich wird. Das ganze Klassenzimmer ist auf einen einzigen Blickpunkt reduziert. Meine ganze Welt besteht aus einem dreieckigen Briefchen, das auf einer schmalen Holzleiste ruht; der Name Stada steht vorne darauf. Und obwohl ich keine Ahnung habe, wie es hierhergekommen ist, obwohl ein schneller Rundblick durch den Raum mir bestätigt, dass Damen nicht hier ist, will ich das Ding nicht in meiner Nähe haben. Ich weigere mich, bei diesem abartigen kleinen Spiel mitzumachen.
Ich nehme einen Pinsel und stoße den Zettel damit so heftig weg, wie ich nur kann, sehe zu, wie er durch die Luft fliegt, ehe er zu Boden fällt. Und ich weiß, dass ich mich kindisch benehme, lächerlich sogar, besonders als Ms. Machado herüberkommt und ihn aufhebt.
»Sieht aus, als wäre dir etwas runtergefallen«, trällert sie mit strahlendem, erwartungsvollem Lächeln; sie hat keine Ahnung, dass ich den Zettel absichtlich dorthin bugsiert habe.
»Das gehört mir nicht«, murmele ich, ordne meine Farben neu und denke bei mir, sie kann ihn ja Stacia selbst bringen, oder, noch besser, ihn wegwerfen.
»Dann gibt es hier also noch eine Ever, von der ich nichts weiß?«
Wie bitte?
Ich nehme den Zettel, den sie vor mir zwischen den Fingern baumeln lässt; Ever ist klar und deutlich darauf gekritzelt, und zwar in Damens unverwechselbarer Handschrift. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, keine logische Erklärung. Denn ich weiß, was ich gesehen habe.
Meine Finger zittern, als ich anfange, ihn auseinanderzufalten, alle drei Ecken aufklappe, sie glatt streiche. Und nach Luft schnappe, als eine kleine, detaillierte Zeichnung sichtbar wird - eine kleine, detaillierte Zeichnung von einer wunderschönen roten Tulpe.